Michael Marten “Sea Change”
Abstract.
Am 15. September 2016 haben wir in der schaelpic photokunstbar in Köln die Ausstellung mit Arbeiten aus der Serie “Sea Change” von Michael Marten eröffnet. Zur Einführung habe ich eine kurze Ansprache gehalten, die ich hier dokumentiere.
© 2016 Martin Frech, → Notizen zur Fotographie (NzF)
Nachdruck oder Nutzung im Internet (vollständig oder teilweise) bitte nur ↬ nach vorheriger Rücksprache.
In unserer laufenden Reihe präsentieren wir noch bis Ende des Jahres Fotoarbeiten unter dem Oberbegriff “Zeit und Fotografie”.
Den Anfang machte vor einem Jahr Jürgen Hermann Krause, der seine Ost-Blicke aus der Noch-DDR von 1990 zeigte. Es folgten in diesem Jahr Knut Wolfgang Marons Bilder von seiner Mutter und ihrem Nachlass. Romano Riedo hat uns dann im Mai sein Langzeitprojekt über Bergbauern in der Schweiz vorgestellt. Die drei Autoren haben mit ihren Arbeiten jeweils unterschiedliche Zeit-Aspekte betont.
Nun zeigen wir Michael Martens “Sea Change”. Das ist die vierte Ausstellung in dieser Reihe und insgesamt unsere 23. seit 2006.
Schon ein kurzer Blick auf Michael Bilder macht deutlich, warum diese Schau hervorragend zu unserem Konzept passt: Der Fotograf zeigt auf Bildpaaren jeweils dasselbe Motiv zu zwei verschiedenen Zeitpunkten – Landschaftsaufnahmen der britischen Küste, einmal bei Wasser-Hochstand und einmal bei Niedrigwasser. Wir sehen, wie Ebbe und Flut – aber auch ein veränderter Sonnenstand – das Aussehen einer Szene dramatisch verändern.
Der Fotograf hat für jedes Bildpaar seine große Kamera zweimal identisch aufgebaut und die selbe Szene im Abstand von einigen Stunden beim niedrigsten und höchsten Wasserstand aufgenommen, idealerweise in der Zeit von Voll- oder Neumond, wenn der Tidenhub besonders groß war.
“Sea Change” ist eine konzeptuelle Arbeit im klassischen Genre der Landschaftsfotografie – stringent und äußerst sorgfältig durchgearbeitet.
Michael Marten hat für sein Projekt Großbritannien umrundet und selbst den hohen Norden nicht ausgespart; sogar die Shetlandinseln hat er bereist.
Ab 2003 ist er dafür neun Jahre lang regelmäßig kreuz und quer über die Insel gereist und hat knapp 400 Bildpaare aufgenommen. In den ersten Jahren auf 4 × 5″-Farbnegativfilm, später mit einer digitalen Mittelformatkamera.
Für die Präsentation im Buch hat er vier Küstenabschnitte definiert und die Bilder systematisch “im Uhrzeigersinn” sequenziert: Südwest, Nordwest, Nordost und Südost und zeigt damit Bilder vom Atlantik, der Nordsee und des Ärmelkanals. Im Buch sind von jedem Abschnitt zwischen 11 und 15 Bildpaare abgebildet; das jeweils linke Bild ist das zuerst aufgenommene. In der Ausstellung zeigen wir eine Auswahl.
Wer auch nur ein paar Stunden an einem Meeresstrand verbracht hat, kennt natürlich die Gezeiten: das Wasser kommt und geht. Und irgendwie hat der Mond damit zu tun.
Der Musiker Marteria (Marten Laciny, *1982) besingt das Phänomen im Lied “Welt der Wunder” (auf “Zum Glück in die Zukunft II”, 5/2014). In seiner Hook singt er:
Denn wir leben auf einem blauen Planet
der sich um einen Feuerball dreht.
Mit ’nem Mond der die Meere bewegt –
und Du glaubst nicht an Wunder?
Damit bringt der Rapper meine Verständnisschwierigkeiten kosmischer Einflüsse ganz gut auf den Punkt und deutet nebenbei die poetische Kraft an, die den Naturphänomenen innewohnt. Gleichzeitig kennen wir das zerstörerische Potential von Hochwasser, Sturmfluten und Riesenwellen.
Dieser Aspekt ist für mich beim Betrachten von Martens Bildpaaren untergründig präsent. Ich weiß, dass die gezeigten Überschwemmungen aus einem natürlichen Rhythmus resultieren – bekomme jedoch eine Ahnung davon, was ein steigender Meeresspiegel für Folgen haben wird.
Nach der gängigen Erklärung der klassischen Mechanik sind die Gezeiten eine Folge der Anziehungskräfte von Mond und Sonne.
Deren Gravitationskräfte wirken auf die Erde. Die Erdkruste ist davon kaum beeinflusst, das Wasser der Ozeane jedoch deutlich. Es wird vom Mond (und der Sonne) angezogen und bildet Flutberge, den sog. Tidenhub. Dazwischen herrscht Ebbe.
Dass daraus Gezeiten werden, liegt an der Erddrehung. Ohne sie würden Ebbe und Flut nicht über die Erdoberfläche wandern, sondern wären an einen Ort fixiert.
Aber die Erde dreht sich quasi unter den Wassermassen der Ozeane. Das Wasser ist zu träge und hat eine zu geringe Reibung, als dass es sich mitbewegen könnte. An den Stellen, wo Land aus dem Wasser ragt, staut sich das über die Erde strömende Wasser und der Tidenhub vervielfacht sich.
Die Situation ist natürlich komplizierter, da die Wasserwellen am Ufer reflektiert werden und zurücklaufen – dadurch entstehen Resonanzen die auch wieder Auswirkungen auf die Wasserhöhe haben. Dazu kommen noch der Einfluss von Winden, Jahreszeiten und weiteren geografischen Einflüssen sowie von Zentrifugalkräften – eine ziemlich komplizierte Materie.
Rund um die britische Küste variieren die Hochwasserstände örtlich zwischen einem und 15 Metern.
Kurz gefasst kann man Ebbe und Flut als geografische Reaktionen auf astronomische Ursachen sehen.
Eine spezielle Situation ergibt sich etwa zweimal im Monat, wenn Erde, Mond und Sonne in einer Linie stehen, also bei Voll- und bei Neumond. Dann addieren sich die Gravitationskräfte von Mond und Sonne und das Wasser der Ozeane steigt besonders hoch – Springfluten entstehen.
Das waren die von Michael Marten bevorzugten Fototermine.
Bei Halbmond wirkt die Sonne dagegen entschärfend und verringert die Kraft des Mondes – Ebbe und Flut sind schwächer ausgeprägt (Nipptiden).
Es gibt Fotografen, die die unberührte Natur suchen und mit viel Pathos die Erhabenheit der Schöpfung feiern oder romantisch-sehnsüchtig auf die Landschaft schauen.
Im Kontext der Seestücke wären dies beispielsweise Gustave Le Gray (1820 – 1884), Franz Schensky (1871 – 1957) oder der Zeitgenosse Elger Esser ( 1967).
Andere interessieren sich für die vom Menschen gestaltete Landschaft, wie das die New-Topographics-Bewegung seit den 1960er-Jahren tut. Bekannte Vertreter dieses dokumentarischen Blicks sind Robert Adams (* 1937), Lewis Baltz (1945 – 2014), Heinrich Riebesehl (1938 – 2010) und Joachim Brohm (* 1955).
Michael Marten schafft es ganz unaufgeregt, beides zu verbinden; die romantische Sicht und den dokumentarischen Blick. Neben klassischen Seestücken sehen wir Aufnahmen, die ganz selbstverständlich Industrie- und Hafenanlagen ins Bild rücken; wenn es sich ergibt, sind seine Bilder auch bevölkert.
Er bringt es sogar fertig, beide Sichtweisen in einem Bildpaar zu vereinen. Dann ist beispielsweise die Szene bei Niedrigwasser quirlig bevölkert, und ein paar Stunden später sehen wir die gleiche Ansicht als eine komplett andere Landschaft, überflutet, menschenleer, dramatisch beleuchtet.
Michael Marten hat sich intensiv mit den Gezeiten beschäftigt und seine konzeptuelle Setzung deutlich an den Gezeitentafeln orientiert. Er kann dadurch jedoch nicht auf ein bestimmtes Licht warten, verzichtet also weitgehend auf ein elementares Gestaltungsmittel der Landschaftsfotografie.
Obwohl ihm Gezeitentabellen und nicht der optimale Sonnenstand den Zeitpunkt der Aufnahmen diktierten, gelangen ihm großartige Bilder der britischen Küstenlandschaft. Er wählte seine Ausschnitte so, dass die Bilder dennoch hervorragend funktionieren – die Wirkung des überflutenden Wassers und des überfluteten Landes ist stark genug – viel Wasser verändert alles.
Das Buch zum Projekt:
Michael Marten: Sea Change: A Tidal Journey Around Britain, 126 Seiten, 107 Farbfotografien, mit einer Einführung von Robert Macfarlane. Heidelberg: Kehrer, 2012.
Das Buch ist vergriffen – Exemplare einer limitierten Sonderedition mit zwei beigefügten Prints sind noch erhältlich (125 Euro).
Michael Marten: Sea Change | |
Ausstellungsort:
↬ schaelpic photokunstbar Schanzenstraße 27 51063 Köln Tel. (02 21) 29 99 69 20 |
Ausstellungsdauer: 16. September bis 28. Oktober 2016 (Mo. bis Fr., 10 bis 18 Uhr und nach Vereinbarung) |
Citation recommendation:
Frech, Martin: Michael Marten “Sea Change”. In: Notizen zur Fotografie, 2016-09-18. Online: https://